Ankündigung des BSG: Änderungen bei Rechtspraxis der Sitzeinbringung ins MVZ?

Am 4. Mai 2016 hat der 6. Senat des Bundessozialgerichtes – der sogenannte Vertragsarztsenat – mit seinem Sitzungsbericht (Nr. 19/16), der eine Art Vorabinformation auf die gefällten Entscheidungen darstellt, für große Unruhe bei den MVZ und potentiellen Gründern sowie bei den KVen und Zulassungsgremien gesorgt. Konkreter Auslöser sind die Ausführungen zur Entscheidung B 6 KA 21/15 R.

 


Worum geht es dabei?

Die Einbringung eines bestehenden Vertragsarztsitzes in eine Praxis, bzw. in ein MVZ zum Zwecke der Anstellung eben diesen Vertragsarztes (vgl. § 103 Absatz 4a SGB V) ist die wesentliche Möglichkeit, MVZ zu gründen und zu erweitern.

Anders als bei ’normalen‘ Ausschreibungsverfahren gemäß § 103 Absatz 3a SGB V  ist dieser besondere Überleitungsprozess dem Ermessen des Zulassungsausschusses entzogen und daher automatisch zu genehmigen, wenn alle Bedingungen erfüllt sind. Eine dieser Bedingungen ist, dass bei dem seinen Sitz einbringenden Vertragsarzt auch tatsächlich die Absicht bestehen müsse, künftig als angestellter Arzt auf diesem Sitz weiterzuarbeiten.

Die Überprüfung dieser ‚Absichten‘ ist naturgemäß eine schwierige Sache. Der Gesetzgeber selbst hat sich hierzu nicht geäußert. Folglich hat sich eine gewisse – und bisher im Großen und Ganzen einheitliche  – Verwaltungspraxis entwickelt, als Kriterium die Fortdauer der Beschäftigung von zumeist drei bis sechs Monaten anzulegen. Entsprechend wurden viele Übergaben nach diesem Modell geplant und durchgeführt.

Diese weitgehend etablierten Grundsätze wurden in dem oben genannten aktuellen Verfahren vom Bundessozialgericht in Frage gestellt und – wie in dem Terminbericht mitgeteilt – entschieden, dass künftig als Kriterium von ‚ernsthaften Absichten‘ eine Weiterbeschäftigung von mindestens drei Jahren anzusehen sei.

Sollte sich das durchsetzen, würden alle künftigen Sitzeinbringungsprozesse ganz andere Planungsvorläufe erfordern als bisher. Insbesondere die Variante, dass Kollegen kurz vor ihrem Ruhestand ihren Sitz so abgeben und noch kurzzeitig oder nur in Teilzeit weiterarbeiten, wäre quasi kaum mehr organisierbar.

Die Aufregung ist entsprechend groß.

Fakt ist aber auch, dass – solange die Entscheidungsbegründung fehlt – seriöserweise nur wenig wirklich belastbare Aussagen zum ‚Willen des BSG‘ getroffen werden können. Gleichwohl haben einzelne KVen, bzw. die bei den KVen angesiedelten Geschäftsstellen der Zulassungsausschüsse bereits reagiert und auf die Pressemitteilung des BSG verwiesen.

Zum Zweiten ist festzustellen, dass das BSG an dieser Stelle nur deshalb überhaupt Interpretationsspielraum hat, weil der Gesetzgeber diese Anforderungen an die Dauer der Beschäftigung nach der Einbringung des Vertragsarztsitzes bisher nicht klar umrissen hat. Das könnte er aber jederzeit nachholen.

Wir werden jedenfalls mit Dringlichkeit den Gesetzgeber dafür sensibilisieren, dass eine solche Klarstellung seitens der politischen Ebene erfolgen muss. Dies mit dem Ziel, die bisherige Verwaltungspraxis im SGB V oder der Ärzte-ZV zu implementieren.


 

Was ist eigentlich ein Terminbericht?

Anlass der aktuellen Aufregung ist ein Terminbericht des Bundessozialgerichtes. Dieser ist jedoch nicht mit dem Entscheidungstext selbst zu verwechseln.

Zu jeder gerichtlichen Entscheidung gehört elementar die ausführliche Begründung selbiger dazu. Tatsächlich wird diese aber in aller Regel bei BSG-Verfahren wesentlich später, also versetzt zur eigentlichen Entscheidungsverkündung veröffentlicht.

Um diese zeitliche Vakanz zu überbrücken wird nach der zumeist mündlich durchgeführten Verhandlung die gefällte Entscheidung zeitnah über die Terminberichte der Pressestelle des BSG öffentlich bekanntgegeben.
Datenbank der Terminberichte des BSG

Der Terminbericht, der zu jedem behandelten Streitfall in rund zehn Sätzen – also recht kurz – wesentliche Konsequenzen mitteilt, ist folglich nicht mehr, als eine Art Vorankündigung zu eigentlichen ausführlichen Entscheidungsbegründung. Nur diese ist wiederum letztlich maßgeblich und für die Juristen sowie für das Rechtshandeln relevant.

Im aktuellen Fall hat die BSG-Pressestelle jedoch in dem Terminbericht sehr gravierende Änderungen der Rechtsauslegung dargestellt. Daher ist anzunehmen, das erhebliche Änderungen für die Praxis aufgestellt wurden. Ein Zweck dieser Ankündigung, der aus anderen Fällen bereits bekannt ist, könnte sein, bereits jetzt das Vertrauen in die bisherige Rechtslage zu zerstören:
Keiner solle sich jetzt noch verlässlich darauf berufen können, dass mit einer Änderung der bisherigen Praxis nicht zu rechnen gewesen wäre.

Diese Vermutungen sind jedoch mit gewisser Vorsicht zu genießen, da eine umfängliche rechtliche Würdigung wegen der noch fehlenden ausführlichen Begründungen im Moment nicht vorgenommen werden kann.


 

Zum konkreten Verfahren

In dem Verfahren, das sich im Kern um eine Sitzeinbringung und Nachbesetzung eines bayrischen HNO-Arztes aus den Jahren 2009/10 dreht, geht es eigentlich um die Besetzung einer über längere Zeit vakanten Viertelstelle.

Die Sachlage und die vorinstanzlichen Entscheidungen, bei der das SG München im Übrigen zugunsten des MVZ befunden hatte, lassen auch keine Notwendigkeit erkennen, die nun vom BSG in seinem Terminbericht so zentral aufgenommene Frage der Anstellungsdauer nach Sitzeinbringung überhaupt zu thematisieren. Bisher nicht nachvollziehbar ist außerdem, worin die rechtspolitische Motivation dafür liegt.

Verfahrenslauf

SG München, 19.09.2013 – S 43 KA 1437/11
(Volltext nicht veröffentlicht)

LSG Bayern, 14.01.2015 – L 12 KA 31/14
(Linkverweis Volltext)

 BSG, 04.05.2016 – B 6 KA 21/15 R
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Wortlaut der Terminberichtes zum Fall:
(Quellenverweis: BSG 19/16 – Fall 4)

Die Nachbesetzung der Stelle in einem MVZ kann nur dann und nur insoweit erfolgen, wie der Vertragsarzt tatsächlich als angestellter Arzt im MVZ tätig geworden ist. (…)
Die zu fordernde Absicht des (ehemaligen) Vertragsarztes, im MVZ tätig zu werden, wird sich – wie der Senat für die Zukunft klarstellt – grundsätzlich auf eine Tätigkeitsdauer im MVZ von drei Jahren beziehen müssen, wobei die schrittweise Reduzierung des Tätigkeitsumfangs um ¼ Stelle in Abständen von einem Jahr unschädlich ist. (…)


 

Praktische Folgen?

Die Entscheidung des BSG vom 4. Mai 2016 ist formell bereits rechtskräftig, da letztinstanzlich behandelt. Offen stünde hier dem klagenden MVZ bei Anführung einer Grundrechtsverletzung theoretisch nur noch der Weg zum Bundesverfassungsgericht, der jedoch keine aufschiebende Wirkung hätte. Ohnehin ist kaum zu erkennen, dass das betroffene MVZ durch diese Ankündigung belastet ist, da diese neue Anforderung an die Dauer der Tätigkeitsabsicht in dem Rechtsstreit unerheblich war und Geltung auch nur für die Zukunft entfalten soll.

Gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass aufgrund des bloßen Terminberichtes eigentlich keine eingehende Beurteilung des Falls möglich ist.

Dennoch hielt es das Gericht für angebracht, bereits innerhalb dieses kurzen Berichtes klarzustellen, dass bestehende Entscheidungen der Zulassungsausschüsse zu solchen Fragen der Sitzeinbringung im Sinne eines Bestandsschutzes ihre Geltung behalten sollen. Dies ist ein starkes Indiz für die ernsthafte Absicht des Gerichtes, den Entscheidungsspielraum der Ausschüsse hier tatsächlich für die Zukunft binden zu wollen.

Von daher ist trotz aller angebrachten Einwände davon auszugehen, dass einzelne Zulassungsausschüsse diese – durchaus als MVZ-feindlich zu bewertende – BSG-Aussage auch ohne Abwarten der Urteilsbegründung sehr schnell für sich adaptieren und entsprechend umsetzen werden.

Das heißt im Umkehrschluss, dass eine Lösung hier schnellstmöglich auf anderer Ebene, sprich politisch, erreicht werden muss.

Rechtlich kann aber auch Folgendes
zu Denken gegeben werden:

Das Erzwingen einer Tätigkeit, bzw. die Forderung nach einer unverbrüchlichen Aussage über die Dauer einer Tätigkeit ist kaum durchsetzbar. Denn auch bei positiver Feststellung einer ausreichenden Tätigkeitsabsicht, verbleiben vielfältige Gründe, aufgrund dessen diese sich später doch nicht realisieren lässt, ohne dass den Beteiligten hieraus ein Vorwurf gemacht werden kann (z. B. Krankheit, Vorliegen außerordentlicher Kündigungsgründe, nicht absehbare sonstige Änderungen wesentlicher Umstände etc.).
Aus der Anforderung kann also eine rücksichtslose Pflicht zur Aufrechterhaltung der Tätigkeit für den Zeitraum von drei Jahren schwerlich folgen. Andernfalls würde man beiden Seiten die Tragung letztlich nicht beherrschbarer Risiken auferlegen. Dafür ist keinerlei hinreichende Rechtfertigung zu sehen. Folglich  könnte sich die Anforderung allenfalls auf die bestehende Absicht zur Dauer des Anstellungsverhältnisses zum konkreten Zeitpunkt der Sitzeinbringung beziehen. 
Gänzlich unklar ist auch, welche Folge es haben sollte, wird die Tätigkeitsabsicht nicht vollständig realisiert. Entfällt die Vertragsarztstelle dann ersatzlos oder zumindest mit Kompensation? Fällt die Vertragsarztstelle wieder zurück an den Abgeber? Wie wirkt sich das auf den häufig zu Grunde liegenden Kaufvertrag aus?
Für die rechtliche Beurteilung eines solchen Eingriffes ist aber entscheidend, wie schwer die Folgen ausfallen. Immerhin würde hier eine massive Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Positionen von Abgebern und Erwerbern bewirkt.
Im Ergebnis dürfte die Erschwernis bei Verfahren der Sitzeinbringung gemäß § 103 Absatz 4a SGB V - hält das BSG an seiner Interpretation fest - vor allem in der zum Einbringungszeitpunkt plausibel vorzutragenden Absicht des einbringenden Vertragsarztes, für die Dauer der nächsten Jahre angestellt tätig sein und bleiben zu wollen, liegen.

Faktisch könnte man dies dann also als eine Art zusätzlich eingeführte Gesinnungsprüfung des Abgebers bezeichnen. Die künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit hierzu geführten juristischen Streitigkeiten dürften wiederum ausgesprochen spannend werden.

Mithin gibt es gravierende rechtliche Einwände gegen die angedeutete Anforderung des BSG, die zumindest deren maximal restriktive Handhabung verlangen.

Diese subjektive Einschätzung durch den BMVZ darf aber nicht davon ablenken, dass die aktuelle Rechtsprechung des BSG wohl dennoch erhebliche Auswirkungen auf die Arbeit der Zulassungsausschüsse haben wird.


Welche Handlungsnotwendigkeiten erwachsen hieraus?

Bitte beachten Sie, dass es sich im Nachfolgenden um Empfehlungen handelt, die dem ‚Denken eines vorsichtigen Kaufmannes‘ entsprungen sind. D.h. mögliche Folgen des Terminberichtes werden – unter Verweis auf die oben stehenden Ausführungen – präventiv antizipiert, ohne dass damit die Wertung verknüpft sein soll, dass alle Zulassungsausschüsse hier sofort ihre Spruchpraxis anpassen (werden).

Aktuelle und künftige Vertragsgestaltungen zur Übernahme sollten unter dem Blickwinkel der potentiellen ‚3-Jahres-Erfordernisses‘ neu bewertet und eventuell angepasst werden.

Je nach konkreter Abgabesituation kann das bisher eigentlich als eher ‚rechtsunsicherer‘ bewertete Verfahren des Sitzerwerbs im offenen Nachbesetzungsverfahren alternativ wieder relevant werden.

Gerade laufende Sitzeinbringungsverfahren wären – wenn möglich – zu beschleunigen, um in den ‚Genuss‘ des im Terminberichtes schon erwähnten Bestandsschutzes zu kommen. Da wahrscheinlich nicht alle Zulassungsausschüsse den Terminbericht unmittelbar umsetzen werden, kann es hier zeitliche Spielräume geben.

Achten Sie auf die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe, mit der jedoch aller Erfahrung nach frühstens im Sommer zu rechnen ist!


Für Mitglieder:

PDF-Download dieser ersten Einschätzung zu der BSG Entscheidung B 6 KA 21_15R vom 4. Mai 2016


Link: Weitere Informationen des BMVZ:
Rechtsgrundsätze außer Kraft?
Überschießende Reaktionen einzelner Zulassungsausschüsse verursaachen absolute Rechtsunsicherheit!


Presseschau


Vor dem Ruhestand ins MVZ – Kein Weg für den raschen Ausstieg
(ÄrzteZeitung vom 18.05.2016)