ÄND-Interview: „Es können durchaus Existenzen bedroht sein – auch bei den MVZ“

Der Corona-Schutzschirm für Arztpraxen ist gespannt. Allerdings deckt er nicht alle Einkommensverluste ab. Der änd hat dazu mit Susanne Müller vom Bundesverband Medizinischer Versorgungszentren gesprochen. Die BMVZ-Geschäftsführerin erzählt auch, warum sie die Änderung der Abschlagszahlungen an Berliner MVZ für ein Politikum hält, und warum sie die einstige SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt in Schutz nimmt.

Das Interview ist am 03.05.2020 im änd erschienen.

Honorar-Schutzschirm für Praxen

Frau Müller, Ihr Verband hat den Honorar-Schutzschirm für Praxen und MVZ analysiert. Zu welchem Ergebnis kommen Sie?

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Der Schutzschirm ist eine tolle Sache und ein Privileg gegenüber anderen Branchen, zumindest soweit es um den Bereich der Morbiditätsorientierten Vergütung (MGV) geht. Denn es handelt sich dabei um eine, so lange wie eben nötig dauernde, echte Einkommenssicherung. Das heißt, die Finanzierung der ambulanten Leistungserbringer wird aufgrund ihrer Bedeutung prophylaktisch sichergestellt, gerade damit sie (später) nicht gerettet werden müssen. Zu unserer ersten Analyse haben uns viele Nachfragen erreicht. Aus diesem Grund haben wir wesentliche Inhalte so gut es ging konkretisiert. Entstanden sind „11 praxisrelevante Thesen zu den praktischen Folgen des ambulanten Schutzschirms“.

Was ist für Sie der wesentliche Kern des Schutzschirms?

Die Verpflichtung von KVen und Kassen, die für 2020 fest vereinbarte Gesamtsumme der MGV in jedem Fall an die vertragsärztlichen Leistungserbringer, also Ärzte, Psychotherapeuten und MVZ, auszuzahlen – und zwar auch dann, wenn das durch die Pandemie reduzierte Leistungsgeschehen dies nach den formalen Regelungen eigentlich nicht erlauben würde.

Welche Probleme sehen Sie?

Die BA-Anweisung, dass Praxen kein Kurzarbeitergeld erhalten dürften, geht schlichtweg von einer völlig falschen Auslegung des Schutzschirms aus, weil behauptet wird, dass alle Honorare aller Vertragsärzte zu mindestens 90 Prozent ausgeglichen werden.

Zunächst gibt es ein großes Verständnisproblem zu den beiden maßgeblichen Änderungen in § 87 a und b SGB V, sodass viele Falsch- und Fehlinformationen im Umlauf sind. Ein gutes Beispiel ist die BA-Anweisung, dass Praxen kein Kurzarbeitergeld erhalten dürften. Diese geht schlichtweg von einer völlig falschen Auslegung des Schutzschirms aus, weil behauptet wird, dass alle Honorare aller Vertragsärzte zu mindestens 90 Prozent ausgeglichen werden. Das ist nicht nur deshalb fehlerhaft, weil ja nur für den MGV-Bereich eine Ausgleichsverpflichtung vorgegeben wurde. Sondern auch deshalb, weil es sich um einen Kollektivanspruch aller Ärzte einer KV handelt, der letztlich aber nichts darüber aussagt, womit die einzelne Praxis zu rechnen hat.

Wer muss mit existenzbedrohenden Umsatzeinbußen rechnen?

Alle Praxen, die nicht wie der Durchschnittsarzt mindestens 70 Prozent ihrer Vergütung aus der MGV beziehen, stehen vielfach ohne ausreichende Sicherheiten da. Denn Leistungen anderer Zahler, wie der PKV, der Unfallkassen oder aus Haus- und Facharztverträgen, finden gar keine Berücksichtigung. Und ob Umsatzeinbrüche bei der EGV – der extrabudgetären Vergütung – ausgeglichen werden, wurde den KVen als bloße Kann-Option mit auf den Weg gegeben. Die KV Berlin schreibt etwa auf ihrer Webseite, dass sie EGV-Leistungen nicht ausgleichen könne. Hier können durchaus Existenzen bedroht sein, auch bei den MVZ.

Auswirkungen der Corona-Krise auf MVZ

MVZ kommen organisatorisch vielfach besser durch die Krise, weil sich der Mehrwert einer professionellen nichtärztlichen Organisationsebene bemerkbar macht.

Wie geht es den Medizinischen Versorgungszentren in der Corona-Krise?

Sehr verschieden. Wie bei den niedergelassenen Kollegen auch, hängt das maßgeblich von der Fachrichtung ab. Insgesamt sehen wir, dass MVZ organisatorisch vielfach besser durch die Krise kommen, weil sich der Mehrwert einer professionellen nichtärztlichen Organisationsebene bemerkbar macht. Sie hält den Ärzten einerseits den Rücken frei, und kann andererseits gezielter Rahmenbedingungen verfolgen und umsetzen, die sich ja derzeit zum Teil sehr schnell ändern.

Der Bundesvorsitzende des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte erklärte kürzlich, dass es selbst mit erweiterten Sprechzeiten schwer werden dürfte, die Masse der entgangenen Leistungen nachzuholen – „erst recht nicht vor dem Hintergrund der nach wie vor bestehenden gesetzlichen Leistungsobergrenzen und Vergütungsvorgaben. Wenn die Niedergelassenen nicht hinreichend geschützt werden, könnten am Ende ausgerechnet die MVZ-Ketten die Krisengewinner sein, die jetzt als Erste den Laden dichtgemacht haben“. Wie sehen Sie das?

Was potenzielle ‚Krisengewinner‘ betrifft, hat der FVDZ eindeutig recht. Ich finde es aber sehr gewagt zu behaupten, Zahn-MVZ hätten in großer Zahl dicht gemacht. Als Zahn-MVZ-Träger würde ich mich gegen diese Unterstellung wehren. Allerdings muss die Politik, die ja momentan über den Zahnarzt-Schutzschirm streitet und nach aktuellen Meldungen dazu tendiert, ausschließlich rückholbare Liquiditätshilfen vorzuzusehen, schon darüber nachdenken, was eine solche Entscheidung -insbesondere für die klassische Zahnarztpraxis – bedeuten würde.

KV-Berlin: Aussetzen der Abschlagszahlungen für MVZ

Schauen wir nach Berlin: Dort droht Ärger, nachdem die KV in ihrer Vertreterversammlung im Januar die Änderung ihrer Abrechnungsordnung ab 1. April beschlossen hat. Demnach soll an den Abschlagszahlungen für MVZ gerüttelt werden. Was glauben Sie, ist der Beweggrund der KV?

In den Beratungen hat die KV als Grund angegeben, ihr Risiko minimieren zu wollen. Demnach besteht die Sorge – natürlich ausschließlich bei den MVZ in nicht-ärztlicher Trägerschaft – dass mit den Abschlägen Gelder an die MVZ fließen, die später im großen Umfang nicht durch die Honorarabrechnung gedeckt sind. Diese Logik ist allerdings überhaupt nicht nachvollziehbar, da sich die Abschläge arzt- und MVZ-individuell am RLV-Bescheid orientieren und relevante Veränderungen im Leistungsgeschehen schnell auffällig werden.

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Welche MVZ sind davon betroffen?

Die Regelung ist ausschließlich an die MVZ adressiert, die nicht nur Ärzte als Gesellschafter haben. Von den zuletzt 270 MVZ in Berlin, das ist der Stand Ende 2018, betrifft dass jene 89 MVZ in Krankenhausträgerschaft, sowie die MVZ dritter Träger, aber auch alle MVZ in Vertragsärztehand, die auch andere Träger eingebunden haben. Insgesamt sind also deutlich mehr als die Hälfte aller Berliner MVZ betroffen.

Gleichzeitig gilt der KV-Beschluss nur für diejenigen MVZ, deren Abschlag größer als 100.000 Euro ist…

Ja – und für jene, die nicht bereit sind, ihren Abschlag freiwillig auf diese Summe zu begrenzen.

Das heißt?

In meinen Augen kommt die Regelung einer Betriebsbehinderung für betroffene MVZ gleich.

Abschlagszahlungen sind zeitnahe Vorauszahlungen auf das zu erwartende Honorar, das erst mit mehrmonatiger Verspätung ausgezahlt wird. Wird der Abschlag reduziert oder gar nicht in Anspruch genommen, fällt am Ende die Honorarzahlung im gleichen Umfang größer aus. Das ist für die KV und die MVZ ein Nullsummenspiel. Fast alle Ärzte und MVZ sind aber auf die monatlichen Abschlagzahlungen angewiesen. In meinen Augen kommt die Regelung einer Betriebsbehinderung für betroffene MVZ gleich.

Warum?

Weil der monatliche Abschlag wichtig ist, um die Liquidität von Ärzten und MVZ zu sichern. Wenn dessen Erhalt jetzt an die Bedingung gekoppelt ist, eine zusätzliche Bankbürgschaft zu hinterlegen, entstehen ohne Mehrwert für die MVZ zusätzliche Kosten. Eine Bankbürgschaft funktioniert ja wie ein nicht-ausgezahlter Kredit, wird aber oft höher verzinst. Das bedeutet, die Abgabe einer Bankbürgschaft in fünffacher Höhe der Abschlagszahlung produziert dauerhaft nicht unerhebliche Gebühren. Zudem wird die Kreditlinie des MVZ belastet.

Im Grunde wird von der KV für diese Trägergruppe pauschal die Möglichkeit betrügerischer Absichten erwogen.

Gibt es Fälle, in denen die Befürchtung der KV eingetreten ist, die Abschläge könnten höher sein als das tatsächliche Honorar?

Nein. Mir ist bundesweit kein Fall bekannt, wo es entsprechende Probleme gegeben hätte. Es ist schlichtweg nicht möglich, dass ein MVZ oder ein Arzt über mehrere Monate Abschläge bezieht, ohne überhaupt tätig zu sein. Im Grunde wird ja pauschal von der KV für diese Trägergruppe zumindest die Möglichkeit betrügerischer Absichten erwogen. Mir fällt es schwer, darin nicht auch die grundlegende Abneigung gegenüber MVZ in nicht-ärztlichen Trägerschaften zu erkennen.

Sie halten die Regelung also für überflüssig?

Ja, für uns ist sie nichts weiter als ein Politikum. Das von der KV vorgebrachte Argument der Risikovorsorge ist bei Lichte betrachtet alles andere als stichhaltig. Es darf auch nicht vergessen werden, dass ähnliche Vorgaben bereits seit mehreren Jahren in Bayern, im Saarland und in Mecklenburg-Vorpommern bestehen. Dort regt sich nur niemand mehr auf. 2012 hat es mehrere, nicht erfolgreiche Klagen dagegen geben; später haben sich die betroffenen MVZ zwangsweise irgendwie arrangiert. Ein Politikum ist es trotzdem – und zwar bundesweit.


Welche Konsequenzen haben die MVZ daraus gezogen und was machen die Berliner jetzt?

Wie das einzelne MVZ damit umgeht, muss individuell entschieden werden. Wie in den anderen Regionen, werden einige wenige Träger auf die Abschlagszahlung verzichten, die meisten aber notgedrungen die Bankbürgschaften hinterlegen. Beides ist für die betroffenen MVZ eine betriebswirtschaftliche Strafe, für die wir keinerlei Rechtfertigung sehen. MVZ sind nun einmal seit 2004 regelhafter Teil der ambulanten Versorgung und als solche gleichberechtigt, mit den niedergelassenen Ärzten die Versorgung sicherzustellen.

Investoren in der ambulanten Versorgung


Das sehen offenbar nicht alle so, etwa Sachsens KV-Chef Dr. Klaus Heckemann. Er warnte zuletzt im Gespräch mit dem änd vor kapitalbetriebenen MVZ und sagte: „Private Geldgeber halten sich, holzschnittartig dargestellt, einen üppigst alimentierten ,Medizinischen Direktor‘ im MVZ. Dessen Aufgabe ist es nicht, medizinische Versorgung auf dem jeweils adäquaten GKV-Niveau zu generieren. Es soll gleichsam auf Teufel komm’ raus Umsatz machen und Zusatzangebote verkaufen“. Stimmt das?

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Stimmen pauschale Holzschnitte jemals? Wie immer und überall gibt es auch bei den MVZ alle Schattierungen, sogar bei den Investoren. In der aktuellen Niedrigzins-Phase ist sehr viel Kapital auf Anlagesuche. Und da gilt für den Durchschnittsanleger, dass zum Beispiel zwei Prozent langfristig sichere Rendite besser sind als null, oder gar Strafzinsen. Folglich haben wir viele, auch institutionelle Anleger im Gesundheitswesen, die mit ganz normalen Gewinnerwartungen in die Versorgung investieren und den Praxen mit der zur Verfügung gestellten Liquidität auch Gutes tun, gerade aktuell.

Andere Erwartungen haben die Investoren nicht?

Natürlich gibt es auch Investoren mit anderen Erwartungen – aber selbst das muss nicht unbedingt schlechte Medizin bedeuten. Vielfach werden Gewinne über Skaleneffekte erzeugt, also Einspar- und Effizienzeffekte, die allein aus Größe entstehen. Ich verstehe, dass dies vielen Ärzten und Ärztefunktionären suspekt ist, deshalb ist es aber nicht unbedingt falsch oder gefährlich. Insgesamt halten wir die Patienten für mündig genug, bei der Arztwahl selbst die für sie passende Entscheidung zu treffen.

Heckemann macht die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt für den Trend mitverantwortlich. Sie habe „diese MVZ als Rammbock zunächst gegen die Freiberufler installiert“. Teilen Sie diese Auffassung?

Ja und nein. Natürlich hätte es ohne die MVZ-Gesetzgebung viele der aktuellen Entwicklungen nicht, oder nicht in dieser Dynamik gegeben. MVZ waren aber auch der Wegbereiter für viele Flexibilisierungen, von denen insbesondere auch die selbständig niedergelassenen Ärzte profitieren.

Welche sind das?

Mir ist wichtig zu betonen, dass es nicht der Plan von Ulla Schmidt war, die ärztliche Freiberuflichkeit zu unterlaufen.

Ich denke zum Beispiel an Teilzeitarbeitsverhältnisse. Oder daran, dass die Tätigkeit im Krankenhaus und in einer Praxis miteinander vereinbar ist, so wie es 2007 wegen der MVZ im Paragrafen 20 der Zulassungsverordnung festgelegt wurde. Oder an die Anstellungsoption überhaupt. Seit Jahren sind tatsächlich mehr Ärzte in Praxen und Berufsausübungsgemeinschaften angestellt als in MVZ. Mir ist an dieser Stelle aber auch wichtig zu betonen, dass es nicht der Plan von Ulla Schmidt war, die ärztliche Freiberuflichkeit zu unterlaufen.

Viele Ärzte, die Ulla Schmidt als Gesundheitsministerin erlebt haben, sehen das anders. Wird die damalige Zeit heute verzerrt dargestellt?

Ich weiß, dass sich diese Sichtweise hartnäckig hält, beurteile es aber anders. Denn nach wie vor sind Krankenhausärzte und angestellte Mediziner in der ambulanten Versorgung Freiberufler, nur eben nicht in Selbstständigkeit. Zum anderen war es, und das ist Fakt, die CDU/CSU mit ihrem Verhandlungsführer Horst Seehofer, die in den Konsensverhandlungen zur Gesundheitsreform 2003 die Krankenhäuser als MVZ-Träger eingebracht hat. Das ursprüngliche Konzept der SPD hatte hauptsächlich Kommunen und Wohlfahrtsverbände als Träger vorgesehen, und es sollte nur für die grundversorgenden Fachrichtungen, also Haus- und Kinderärzte sowie Frauen- und Augenärzte, gelten. Die Entwicklungen von heute – die positiven wie die negativen – daher allein der SPD in die Schuhe zu schieben, halte ich für falsch.